Wenn man zum Mond guckt oder zum Mars – Warum Roger Kaysel Werke neu im Internet publiziert
Erschienen im Badener Tagblatt am 21.03.2021, geschrieben und fotografiert von Max Dohner
Wenn man in den Mond guckt oder zum Mars
Roger Kaysel veröffentlich neu seine Cartoons und Satirezeichnungen im Netz
Von Max Dohner
Wie alt ist der „Kampf um die Hose“? Also um die Frage, „wer eigentlich die Hosen anhat“? Feststeht: Dieser Kampf ist jünger als das Paradies. Aus Gründen, die jedes Gemälde zeigt. Ab Vertreibung der Nackten aus dem Paradies aber dürfte der Streit um „die Hose“, die Macht der Geschlechter, endgültig entbrannt sein. Jedenfalls wurde er in grauer Vorzeit schon hitzig geführt. Selten jedoch schriftlich; die Mehrheit im Volk konnte nicht lesen. Befeuert wurden alle Kontroversen damals stark über Bilder. Volkskundliche Dokumente zeugen davon, sogenannte Volksbilderbogen.
Roger Kaysel zeigt uns welche. Freche flinke Skizzen, Polemisches und Zotiges, darunter immer wieder Bilder und Zeichnungen – sofort ersichtlich – von hohem künstlerischem Wert. Kennt man deren Meister? In der Regel nicht. Roger Kaysel sagt: „Den Leuten, die solche Bilder gezeichnet, gemalt und in Umlauf gebracht hatten, ging es um rasche Wirkung. Um die Verbreitung, weniger um nachhaltigen Ruhm und Namen. Bestimmt war Geschäftssinn ein Treiber. Parallel dazu, nicht im Widerspruch, befleissigte man sich handwerklicher Verve mit stillem Ehrgeiz und Anspruch. Nicht vergessen sollte man auch eine gewisse Naivität, mit der dies alles entstand.“
Wo ist die Naivität geblieben?
Und was ist davon geblieben? Der „Kampf um die Hose“ ist nach wie vor im Gang, verbrämt wie üblich einfach mit Anglizismen. Die Bilder dazu liefern heute die sogenannten Sozialmedien, das Internet. Fleiss und Können sind allerdings meist deplorabel. Und die „Naivität“ – sagen wir: das unschuldig Spielerische am Ganzen – scheint im Morast vollends versickert.
Umso faszinierter blättern wir in den Bänden, die Roger Kaysel aus den Regalen seines Archivs holt und ausbreitet. Wir sitzen in der geräumigen, aber durchaus wohnlichen „Abteilung Druckgrafik und Kinderbücher“ des Kindermuseum-Archivs in Baden. Neben dem Fenster tickt, so gemütlich wie unerschütterlich, ein „Zitli“, eine zimmerhohe Pendeluhr. Auf einem Tisch steht ein altes Röhrenradio, in der Ecke eine Hand-Druckerpresse.
Wir sind gekommen wegen Roger Kaysels eigenen „Bilderbogen“: satirische Zeichnungen, Cartoons, mittlerweile gesammelt in sechs Bänden. Jedes „Volume“ ist versehen mit einem Thema, das allerdings weit gefasst ist. Wie „Manifest“, „Art Bizarre“ oder „Paradiso“ – da haben wir sie also wieder, Adam und Eva und das leidige Thema Paar/Macht und Liebe.
Kaysels zeichnerisches Schaffen durch die Jahre ist bekannt. Neu stellt er die Werke jetzt auch auf Internet (cartoonsbyrogerkaysel.ch). Eine Idee, sagt er, seiner Frau. Geschickt wird dem „virtuellen“ Schaufenster Rechnung getragen: Man scrollt mühelos durch die Galerie, so wie man etwa auch in Büchern blättert. Man versteht indes auf Anhieb auch die Ordnung und kann mit einem Klick einzelne Werke auf den Bildschirm holen und in Musse betrachten. Beide Geschwindigkeiten der Wahrnehmung werden so ermöglicht, natürlich auch das für echten Gewinn unerlässliche Verweilen.
Lebensalter und Lebens-Zusammenflüsse
Doch was hat das mit den eingangs erwähnten Volksbilderbogen zu tun? Gerade haben wir einen russischen Band aufgeschlagen mit üppigen, geradezu prachtvollen Beispielen aus dem 17. bis 19. Jahrhundert. Kaysel erläutert: „Diese Zeichner zogen als Bilderhändler durchs Land, in der Hoffnung, eines Tages einen festen Bilderladen zu eröffnen. Natürlich gab es das auch in der Schweiz, allerdings nicht sehr spektakulär. Themen der Bilder waren weltbewegende Ereignisse, die Darstellung der Lebensalter oder Dauerbrenner wie der ‚Kampf um die Hose‘. Und selbstverständlich viel Religiöses.“
Es wird offensichtlich: Roger Kaysel sieht sich irgendwo stehen in der Tradition dieser Volksbilderbogen. Nicht direkt oder linear, aber im Sinne eines Kosmos der Anregungen, empfänglich für die Kreativ-Grundkräfte dieser Kunst: Witz, Satire, Übertreibung, Humor, dosierte Melancholie, ein inneres Terrain von einiger Widerständigkeit. Roger Kaysel nennt es „Résistance“. Damit meint er einen Stil, eine Haltung, die auf der Behauptung des Einzelnen/Individuellen beruht, mithin jeglicher Ideologie fernsteht, geschweige denn Querköpfigkeit oder platte Insubordination bedeuten würde.
Weitere Dinge kamen wohl günstig zusammen für dieses Metier – Kaysel dürfte es viel ernsthafter betreiben, als er gegen aussen den Anschein erweckt. Für die Schublade jedenfalls arbeitet er nicht, da ist er deutlich genug, er denkt nicht einmal daran. Das allein weist schon den Anspruch aus.
Roger Kaysel, Jahrgang 1938, besuchte einst die Kunstgewerbeschule in Zürich, war viele Jahre lang Pressefotograf gewesen und sammelte seit früh Grafiken, Bücher, Spielzeug zur Kinderkultur der letzten 200/300/400 Jahre, was schliesslich zur Mitgründung des Kindermuseums führte. Die Musen, die Kaysel pflegte und hegte, waren sozusagen eng verwandt mit seiner Neigung zu Cartoon, Satire und Zeichnung.
Und wie oder wo hätte er jene Qualität bewahren können, die Kaysel eingangs besonders betonte – die Naivität? Die Frage lässt sich locker stellen, genauso locker natürlich nicht beantworten. Es geht ja um nichts mehr oder weniger als um den Zauber, der einigen wenigen Dingen innewohnt, die Menschen so machen. Zeitbedingte Dinge, die geheimnisvollerweise dann keinen Zeitabrieb mehr kennen. Dieses Geheimnis würden viele gern entschlüsseln, den Schlüssel eifersüchtig behalten, was wohl die schnellste Methode ist, das Geheimnis sofort wieder zu verlieren.
Ebenfalls ausser Frage steht: Das Ganze hat viel mit Spielerischem und wenig mit Sakrosanktem zu tun. Ganz in der Spur Schillers, der sagt, der Mensch sei nur dort ganz Mensch, wo er spiele. Kaysel steht auf und holt zwei geschnitzte handbemalte Vogelfiguren, offensichtlich Lieblingsgegenstände seiner Sammlung, die er stets in seiner Nähe hat. „Alle wurden sie gefertigt nach einer Idee, einem Modell. Aber keine ist gleich. Die menschliche Hand macht jeden diese Vögel singulär.“
Ein Pierrot Lunaire?
Was man ohne Zweifel vom kreativen Arbeiten auch sagen kann: Es dreht sich nicht um und erschöpft sich ebenso wenig in privaten Dingen. Roger Kaysel „redet“ nicht von sich selbst in seinen Zeichnungen, obwohl er darin als Roger Kaysel stets gegenwärtig ist. Am persönlichsten wirkt vielleicht sein Bekenntnis zum Lunatischen im Band „Pierrot Lunaire“.
„Im Vertrauen“, sagt er da – mit jener ironischen Eleganz, es öffentlich zu sagen – über den Cartoonisten: „Er ist ein stiller Verehrer der Mondgöttin. Seine Bewunderung für Luna ist nicht wissenschaftlicher Art, dieser Bewunderung liegt Mythisches zugrunde.“ Also weniger Mondfahrer als Mondscheinträumer. Technische Meisterleistungen jedoch zwischen den Sternen – oder zumindest zwischen den Planeten – kommentiert Kaysel mit gleicher Begeisterung.
Etwa die aktuelle Mission der Sonde „Perseverance“ auf dem Mars. „Haben Sie das Foto gesehen mit den drei Planeten über dem Horizont des Mars?“ Ja, haben wir – und teilen Kaysels Begeisterung voll und ganz: „Darunter die Erde als kleine fahle Münze…“ Schon jetzt das Bild des Jahres, vielleicht des Jahrzehnts. Wie damals, als die Erde am Horizont des Mondes aufging. „Eigentlich“, fährt Kaysel fort, „sollten wir, wenn wir dieses Bild wirklich verstanden haben, keine Probleme mehr haben auf der Erde. Oder sie vernünftig und gemeinsam endlich lösen können.“
Das öde Gezerre auf der Erde beenden – eines einzigen Fotos wegen vom Mars? Da lacht die Politik heutiger Couleur: „Kinderwunsch!“ Eben. Ernster kann man das gar nicht sehen.
Autor: Roger Kaysel
Wir Planetenkinder
Eine Satire mit Cartoons über Werdung und Laufbahn des Menschen, von den Planetenkindern zu den Wirtschaftswunderkindern.
ISBN 978-3-8372-1653-0
Autor: Roger Kaysel
Buchzauber
Eine Huldigung in Wort und Bild an das Kulturgut Buch.
ISBN 978-3-8372-1081-1